Archiv für den Monat: November 2008

Old-School und Stil

Ich habe nun einmal Basic Fantasy getestet, um herauszufinden, was es mit diesem „old school“-Kram so auf sich hat. Dabei habe ich einige nützliche Dinge gelernt – eines davon ist: Mit den gegebenen Regeln, wenn man sie denn nutzen will, ist nur ein bestimmter Spielstil möglich. Wenn diese Beobachtung stimmt, könnte sie die gegenseitige Ablehnung von New- und Old-Schoolern erklären: Beide bevorzugen unterschiedliche, zueinander vollkommen inkompatible Spielstile.

Old-School funktioniert nur unter bestimmten Umständen: Die Spieler erkunden die Welt oder den Dungeon, nicht die Persönlichkeiten ihrer Charaktere. Vor allem aber: Die Spieler haben ein Ziel für ihre Charaktere, das sowohl ihnen als auch dem SL klar ist. Das Ziel ist entweder selbst gewählt oder vom SL vorgegeben, wichtig ist, daß die Spieler versuchen, dieses Ziel im Spiel zu erreichen. Gleichzeitig versuchen sie, vom SL gesetzte Hindernisse möglichst zu umgehen, aber auf gar keinen Fall anzuspielen.

Oder kurz: Begegnungen sind Hindernisse auf dem Weg zum Ziel.

Besonders deutlich wird dies an den Zufallsbegegnungen. Deren wichtigste Aufgabe ist es, den Spielern Ressourcen zu entziehen, die sie brauchen, um ihr Ziel zu erreichen. In Ausnahmefällen kann eine solche Begegnung auch einmal hilfreich sein, in der Regel soll sie aber schaden.

Zufallsbegegnungen sollen eine lebendige (und größtenteils feindliche) Welt simulieren. Im OSRIC2-Regelbuch steht folgendes zu dem Thema:

Unlike dungeon encounters, wilderness encounters are not keyed to party level or strength. As a rule of thumb, the GM should use the “No. Encountered” entry in the rulebook to generate specific numbers. Players, for their part, should learn and develop the fine art of running away. Wandering about the wilderness of most campaign milieus is a hazardous pastime.

Auf gar keinen Fall sind aber für den „Plot“ wichtig. (Plot in Anführungszeichen, weil es den laut Old-Schoolern ja eh nicht geben darf)

Dieses Vorgehen widerspricht den meisten gängigen Spielweisen und Abenteuern. Üblicherweise gibt es in Abenteuern größtenteils wichtige Begegnungen und höchstens einige wenige Rote Heringe. Spieler, die mit heute gängigen Spielen aufgewachsen sind, werden daher versuchen, Zufallsbegegnungen anzuspielen – in der Vermutung, daß sie wichtig sind. Wenn der new-school Spieler nicht konkret sagt, was er von der Zufallsbegegnungen erwartet, hat der old-school SL kaum eine Möglichkeit, dieser Begegnung eine Bedeutung zuzuweisen. (Schließlich erwartet er, daß die Spieler versuchen, die Begegnung zu umgehen oder im Sinne ihres Ziels zu nutzen)

Der SL wundert sich also, warum die Spieler ziellos herumdeuteln, während die Spieler sich fragen, warum sie nicht mit der Begegnung interagieren können. Der SL wird den Spielern also etwas vages beschreiben, in der Hoffnung, daß sie genauer erklären, was sie mit der Begegnung anstellen wollen, während die Spieler diese Beschreibung eher als inflexibel und Eisenbahnschiene aufnehmen.

Wenn so etwas mehr als ein- oder zweimal passiert, wird es für alle Beteiligten frustrierend. Die Spieler werden auf die „blöden Regeln“ schimpfen, während der SL sich über „unfähige moderne Spieler“ aufregt.

Disziplinarmechanismen im Rollenspiel

Eins vorweg: Ich bin kein studierter Soziologe. Aber heute vormittag habe ich ein wenig in Michel Foucaults „Überwachen und Strafen“ (1976) gelesen und bin dabei über einen Abschnitt gestolpert, der mich frappierend an unser Hobby erinnert. Unter dem Titel „Die normierende Sanktion“ führt Foucault einige Techniken auf, die so im Rollenspiel zu finden sind. Das vermeintlich harmlose Spiel ist also knallharte menschenfeindliche Disziplinierung?

Ich beginne am besten mit einem Zitat, der Stelle, an der ich aufmerksam wurde:

In der Disziplin ist die Bestrafung nur ein Element innerhalb eines Systems von Vergütung und Sanktion, von Dressur und Besserung. Der Lehrer „muß Züchtigungen so weit wie möglich vermeiden; im Gegenteil, er muß versuchen häufiger Belohnungen auszuteilen als Strafen; denn die Faulen werden durch das Verlangen, ebenso belohnt zu werden wie die Fleißigen, mehr angeeifert als durch die Furcht vor Strafen;“
(Die normierende Sanktion, 4.)

Das ist ein Argumentationsgang, wie man ihn in vielen Foren findet! Nicht zuletzt im FERA, wo ich (ohne inhaltlichen Zusammenhang) vor ein paar Wochen, die Frage nach „Strafen“ im Rollenspiel anstieß.

Der Spielleiter übernimmt also die Rolle des Lehrers (im Abschnitt geht es v.a. um Militärschulen, das ganze lässt sich aber auf die gesamte Gesellschaft anwenden), der die Spieler kontrolliert, diszipliniert und normiert. Wie tut er das? Naja, vor allem durch das Verteilen von Spotlights, Erfahrungspunkten und ähnlichen Belohnungen. In der Diskussion wird diese „fördernde“ Praxis breit unterstützt, sogar gefordert, schaut man sich doch die Power19 oder auch nur die Big 3 der Forge an, die genau fragt, wie man bestimmte Verhaltensweisen (der Spieler oder der Charaktere) belohnt. Scheinbar wird die soziale Wirkung verkannt.
Ein anderes Beispiel, was von vielen abgelehnt wird, macht ganz besonders deutlich, wie stark die Überschneidungen sind, nämlich dann, wenn der Spielleiter Erfahrungspunkte für „gutes Rollenspiel“ verteilt:

Zunächst die Qualifizierung der Verhaltensweisen und Leistungen auf einer Skala zwischen Gut und Schlecht. Während in der Strafjustiz das Verbot als einfache Scheidelinie fungiert, handelt es sich hier um eine Verteilung zwischen einem positiven und einem negativen Pol. […] Und das läßt sich sogar quantifizieren und zu einer Zahlenökonomie ausbauen. Eine ständig auf den neusten Stand gebrachte Buchführung legt die Strafbilanz eines jeden jederzeit offen.

Die Strafbilanz ist da natürlich die Summe der Erfahrungspunkte. Gute Spiele haben mehr als schlechte. Und das führt tatsächlich zu einem Urteil über die Spieler und nicht nur über die Darstellung ihrer Charaktere, denn Foucault sagt weiter:

Mit Hilfe dieser Quantifizierung […], dieser ständigen Notierung von Pluspunkten und Minuspunkten hierarchisieren die Disziplinarapparate die „guten“ und die „schlechten Subjekte im Verhältnis zueinander. In dieser Mikro-Ökonomie einer pausenlosen Justiz vollzieht sich die Differenzierung – nicht der Taten, sondern der Individuen selber: ihrer Natur, ihrer Anlagen, ihres Niveaus, ihres Wertes.

Aber bei Abenteuerpunkten allein ist es noch nicht getan. Vielleicht atmet auch schon der ein oder andere Spieler/Designer auf, weil es bei ihm nur Stufen und keine Erfahrungspunkte gibt. Doch gerade diese, sind noch viel stärker mit Vorsicht zu genießen:

Die Anordnung nach Rängen oder Stufen hat eine zweifache Aufgabe: sie soll Abstände markieren, die Qualitäten, Kompetenzen und Fähigkeiten hierarchisieren; sie soll aber auch bestrafen und belohnen.[…](Die normierende Sanktion, 5.)

Die Parallele ist mehr als offensichtlich. Doch wohin führt uns das? Die Folgen sollen nur ganz kurz angerissen werden: Die wertende Quantifizierung der Leistungen ist belohnend und strafend und wirkt

vergleichend, differenzierend, hierarchisierend, homogenesierend, ausschließend. Es wirkt normend, normierend, normalisierend (Die normierende Sanktion)

Nunja, das kann man sich zumindestens einmal durch den Kopf gehen lassen. Und das Spielleiter autoritär sein können, wissen wir schon lange und spielen deshalb eh Spiele mit schwachem SL, dafür viel Player Empowerment und Fanmail. Erschreckenderweise ist das sogar noch viel schlimmer! Denn hier wird die wertende Quantifizierung nicht von einer Instanz, sondern von allen durchgeführt. Jeder Spieler wird zum Beobachter und kann sofort das Verhalten seiner Mitspieler belohnen (Fanmail), die Auswirkungen davon wurden oben beschrieben. Manche Spiele arbeiten gleichzeitig mit einem Veto, d.h. der Spieler kann belohnt und auch sofort bestraft, sanktioniert werden. Es entsteht Druck so zu spielen, wie es allen Spaß macht, sonst bekommt man sofort eine gewatscht. Das deckt sich ebenfalls stark mit Foucaults Ansichten über die panoptische Überwachung:

Denn die Überwachung beruht zwar auf Individuen, doch wirkt sie wie ein Beziehungsnetz von oben nach unten und nach den Seiten. Dieses Netz „hält“ das Ganze und durchsetzt es mit Machtwirkungen, die sich gegenseitig stützen: pausenlos überwachte Überwacher.

Okay, okay. Das mutet jetzt vielleicht alles wie Blödsinn an und viel zu ernst und aufgeregt für unser „harmloses“ Hobby Rollenspiel. Aber vielleicht ist dem gar nicht so. Vor allem könnte es ein Erklärungsansatz sein, was manche Leute gegen Begriffe wie „Strafen“ oder eben auch solche Mechanismen wie „Fanmail“ haben, vielleicht fällt einigen diese disziplinierende Wirkung unbewusst auf.

Ich denke jedenfalls, dass man eine gewisse Hierarchisierung und letztendlich auch Ausgrenzung (um die geht es im Aufsatz auch) am Spieltisch tatsächlich zu beobachten ist! Diese aber auch schnell und einfach wieder durchbrochen werden kann, durch gemeinsame andere Aktivitäten, wie Brett- und Kartenspiele oder ab und zu ein Bier&Bretzel-Rollenspiel auszuprobieren.

Was ich aber eigentlich zeigen wollte: Es kann unglaublich spannend sein, die sozialen Beziehungen und Rollen beim Rollenspiel (Wortspiel) zu untersuchen und auf bestehende Theorien der Soziologie und der Philosophie anzuwenden. Meistens wird ja höchstens die markt-orientierte Ökonomie herangezogen, zu Zwecken der Balance. Vielleicht kann man aber auch Rollenspiel auf diese Weise neu erfinden und seine gruppendynamische, oder auch pädagogische Funktion erkennen.

Bevor ich mehr wirres Zeug schreibe, höre ich lieber auf und empfehle abschließend Foucault! Nicht nur für angehende Philosophie- und Soziologiestudentinnen mit Gewinn zu lesen. Gerade auch im Hinblick auf wachsende Überwachungsmaßnahmen in unseren Demokratien. Für mehr politisches Spiel! ;)

Und ab!

(Autor: Reinecke)